Sichtweisen

Sichtweisen

Sehen Sie's mal wie wir!

Jenny Aaron vor dem Abgrund

Audio herunterladen: MP3 | AAC | OGG | OPUS

Der neue Band der Thriller-Reihe um die blinde Ermittlerin Jenny Aaron mit dem Titel „Geblendet“ ist Mitte August erschienen. Auf dem Louis Braille Festival hat der Autor Andreas Pflüger bereits daraus vorgelesen. Im Interview erzählt er, warum sowohl blinde und sehbehinderte als auch sehende Menschen seine Heldin mögen, er nicht viel auf die Urteile anderer gibt und nichts von gekürzten Hörbüchern hält.

Interview: Ute Stephanie Mansion

Herr Pflüger, worum geht es in dem neuen Band „Geblendet“ um die blinde Ermittlerin Jenny Aaron?

Die Rahmenhandlung handelt davon, dass die Abteilung, also die Spezialeinheit, der Jenny Aaron angehört, den Berliner Innensenator jagt, einen Verbrecher, der mehrere Kameraden von Aaron auf dem Gewissen hat. Die eigentliche Handlung dreht sich darum, dass Jenny Aaron gezwungen wird, in einen Spiegel zu schauen, will sagen, sich die Frage zu stellen, ob sie das richtige Leben geführt hat und noch führt. Sie blickt in einen Abgrund. So wie es bei Nietzsche heißt: Wenn du lange genug in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

Bei blinden Menschen kommt die Jenny-Aaron-Reihe gut an. Auf Ihrer Lesung in Leipzig haben Sie berichtet, dass der Anteil der Umsätze, der durch die Hörbücher erwirtschaftet wird, bei 50 Prozent liegt, während es normalerweise rund zehn Prozent sind. Welche Resonanz erhalten Sie von Sehenden auf Ihre Jenny-Aaron-Reihe?

In einem Punkt gibt es keinen Unterschied: Viele blinde und sehende Leser mögen Action. Ich höre von blinden Leuten oft: ,Ich mag das, wenn es blutig wird und wenn Jenny Aaron so richtig zulangt.‘ Aber das Schöne an diesen Büchern ist doch, dass man sie auf vielen verschiedenen Ebenen lesen kann. Manche mögen die philosophischen Anteile am liebsten, andere heben den literarischen Aspekt hervor. Viele sind angezogen von dem Freundschaftsthema, das sich durch die Romane zieht.

Was die Sehenden angeht, wird mir immer wieder klar – durch eine Vielzahl von Leserbriefen und auch durch die Resonanz, die ich auf meinen Veranstaltungen bekomme –, dass die Bücher sie zwingen, sich mit blinden Menschen auseinanderzusetzen. Natürlich ist der Alltag von Jenny Aaron von dem Alltag eines normalen blinden Menschen meilenweit entfernt, wie eben zum Beispiel Jack Reacher von meinem, das ist Fiktion, deswegen sind es Thriller.

Dennoch werden auch in den Aaron-Romanen viele Aspekte eines blinden Lebens erzählt, von denen sehende Menschen nichts wussten. Das sind Alltagsdinge wie das Überqueren einer Straße ohne ein Ampelsignal, was lebensgefährlich sein kann, oder wie fülle ich ein Glas und weiß, dass es voll ist, wie unterscheide ich Bunt- und Weißwäsche? Dieses kleine Einmaleins, das ein Mensch, der nichts oder wenig sieht, beherrschen muss, um im Leben zurechtzukommen. Darüber hinaus erzählen die Bücher viel über die spezielle Wahrnehmung der Welt durch blinde Menschen. Sehende sind darüber immer wieder verblüfft, weil sie so selbstverständlich auf ihre Augen vertrauen. Sehende werden ja zu 80 Prozent in ihrer Sinneswahrnehmung durch die Augen dominiert, und jetzt verstehen sie zum ersten Mal, was passiert, wenn das wegbricht, welche Herausforderungen das an einen Menschen stellt. Ich finde es großartig, dass ich darauf aufmerksam machen kann.

Sie haben Jenny Aaron auch die Superblinde genannt. Wieso ist sie trotzdem auch bei durchschnittlichen blinden und sehbehinderten Menschen beliebt?

Ich glaube, dass sie bei blinden Menschen so beliebt ist, weil sie die gängigen Blindenklischees nicht erfüllt. Sie ist nicht hilflos, sie will kein Mitleid, sie braucht auch keins, sie ist ein selbstbestimmter Mensch, sie meistert ihr Leben. Das macht sie interessant und anziehend. Bei den Sehenden denke ich, dass es im Grunde genommen dasselbe ist: das Staunen darüber, dass ein blinder Mensch nicht abhängig ist, sondern sein Leben selbst bestimmt.

Sie haben von der Presse für die ersten beiden Jenny-Aaron-Bände „Endgültig“ und „Niemals“ hervorragende Kritiken erhalten. Haben Sie Angst, dem Anspruch, der damit an folgende Bände gestellt wird, irgendwann einmal nicht mehr gerecht werden zu können?

Nein. Wenn Sie ins Internet gehen und mich suchen, finden Sie alle möglichen Aussagen von Menschen, die beurteilen, was ich mache und daraus zum Teil auch Rückschlüsse auf meinen Charakter ziehen. Einmal im Jahr google ich meinen Namen, halte das etwa fünf Minuten aus, dann muss ich es wieder beenden. Wenn Sie als Autor ernst nehmen, was Menschen im Guten wie im Schlechten über Sie denken und sagen, sind Sie künstlerisch tot. Ich darf niemals daran denken, was andere von mir erwarten, sondern muss meine Bücher so schreiben, wie ich es will und wie ich es gut finde. Es nutzt auch nichts, mich auf Aussagen einzulassen wie ,Das ist das Beste, was er bisher geschrieben hat‘. Beim dritten Roman höre ich das schon wieder. Wo soll das hinführen? Dann wird das nächste das allerbeste, und dann kommt das allerallerbeste. Das ist Unsinn, das geht ja gar nicht. Jedes Buch ist ein eigenes Ding, und jedes Buch versuche ich so gut zu schreiben, wie ich das kann. Wenn ich meinen eigenen Erwartungen genüge, wenn ich nach einem Roman sagen kann, ich habe alles, wirklich alles hineingelegt, was ich konnte, dann bin ich zufrieden und glücklich.

Sie haben in Leipzig gesagt: Gekürzte Hörbücher gehen gar nicht. Welchen Einfluss können Schriftsteller nehmen, damit ihre Bücher ungekürzt vertont werden?

Dafür bin ich ein gutes Beispiel. Als es damals um den Hörbuchvertrag für ,Endgültig‘ ging, gab es eine Auktion darum. Die renommiertesten deutschen Hörbuchverlage haben sich beworben. Ich wollte Random House Audio den Zuschlag geben, aber die wollten das Hörbuch gekürzt veröffentlichen. Ich war kreuzunglücklich, denn ich hätte etwa 20 Prozent des Buches kürzen müssen. Das wäre nicht ohne Substanzverlust gegangen. Deswegen habe ich gesagt: ,Wenn dieses Hörbuch gekürzt werden soll, gebe ich die Hörbuchlizenz nicht frei.‘ Daraufhin ist Random House Audio auf mich zugegangen, was eine tolle Geste war; sie waren offen für meine Argumente und haben mir zugestanden, dass die Hörbücher ungekürzt erscheinen.

Spielt denn eine Rolle, dass Sie a) schon renommiert waren und b) eine blinde Heldin im Mittelpunkt steht, sodass zu erwarten war, dass viele blinde Menschen die Hörbücher kaufen würden?

Zu diesem Zeitpunkt war ich zwar als Drehbuchautor renommiert, aber nicht als Romanautor. Dennoch war es so, dass alle, die das Manuskript kannten, wussten, das wird ein Erfolg. Es hat vielleicht eine Rolle gespielt, dass der Hörbuchverlag deshalb dieses Zugeständnis gemacht hat. Dennoch heißt das nicht zwingend, dass auch in einem Fall, wo der Erfolg fraglicher ist, der Hörbuchverlag nicht auch dem Autor entgegenkommen würde. Ob das Blindsein der Heldin eine Rolle gespielt hat und der zu erwartende Hörbuchverkauf, kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, wie das Marketing von Hörbuchverlagen tickt. Ich habe mit Random House Audio bisher großartige Erfahrungen gemacht.

Welchen Held, welche Heldin aus einem anderen Buch oder einer anderen Reihe mögen Sie besonders?

Philip Marlowe von Raymond Chandler. Ich bin ein großer Chandler-Fan seit meiner Jugend. Ich mag die Figur des Detektivs sehr, diesen lakonischen Humor. Humor spielt für mich eine wichtige Rolle in Kriminalromanen: Man muss die Wucht einer Kriminalerzählung immer wieder aufbrechen und dem Leser oder Hörer die Chance geben, auch mal zu lachen, und bei Philip Marlowe finde ich das ganz toll.

Andreas Pflüger: Geblendet
Suhrkamp 2019, 508 Seiten
Preis: 22 Euro
Die bisherigen Bände der Serie sind auch als Hörbuch und in Punktschrift erschienen.


Kommentare


Neuer Kommentar

Durch das Abschicken des Formulars stimmst du zu, dass der Wert unter "Name oder Pseudonym" gespeichert wird und öffentlich angezeigt werden kann. Wir speichern keine IP-Adressen oder andere personenbezogene Daten. Die Nutzung deines echten Namens ist freiwillig.

Über diesen Podcast

Hier finden Sie den Podcast des DBSV-Verbandsmagazins "Sichtweisen“, der aus zwei Reihen besteht:

Für „Leseprobe“ wählen wir aus jeder Ausgabe einen Beitrag aus und stellen ihn hier zur Verfügung - zum Reinhören und Reinlesen!
In der Hör-Reihe „Präsidiumsgespräch“ beleuchten DBSV-Präsidiumsmitglieder mit Gästen aktuelle Themen, die den Verband beschäftigen.
Impressum: https://www.dbsv.org/impressum.html

von und mit DBSV

Abonnieren

Follow us