Sichtweisen

Sichtweisen

Sehen Sie's mal wie wir!

Alles auf Neuanfang

Audio herunterladen: MP3 | AAC | OGG | OPUS

<Ein Pferd geht durch, eine junge Frau wird aus dem Sulky geschleudert, den es zieht. Sie verliert bei dem Unfall beide Augen. Nach dem ersten Schock, wird ihr klar: Ich mache weiter. Weiter mit dem Beruf als Lehrerin, weiter mit leben. Unsere Autorin erzählt, wie ihr neues Leben begann und warum ihre Erblindung für sie auch eine Chance bedeutete – und ein Abenteuer.

Von Stephanie Dierschke

Stellen Sie sich vor, Sie wachen auf. Sie können nichts sehen. Sie können sich nicht bewegen, nicht sprechen. Sie wissen nicht, wo Sie sind. Sie wissen nicht, was passiert ist. So könnte ein Thriller beginnen, tatsächlich begann so mein neues Leben.

Ich war eine gesunde, aktive junge Frau von 31 Jahren, alles lief gut: Gerade hatte ich mich mit meinem langjährigen Freund verlobt, meine Eignungsprüfung zur Schulleitung bestanden, war in ein schöneres Haus umgezogen, und die Sommerferien hatten begonnen. Was konnte es da Besseres geben, als mit dem Pflegepferd entspannt eine Geländefahrt mit dem Sulky zu unternehmen? Ich konnte nicht ahnen, dass das Pferd ausgerechnet an diesem Tag unkontrollierbar durchgeht und durch eine Engstelle läuft, sodass der Sulky sich verkeilt, ich hinausgeschleudert werde und unter das Pferd gerate. Niemand konnte voraussehen, dass mich dann dieser Huf trifft. Mitten ins Gesicht. Niemand hätte verhindern können, dass dadurch meine Augen so geschädigt werden, dass sie in einer Not-OP entfernt werden müssen. Niemand hätte sich ausmalen können, dass dadurch mein Mittelgesicht derart zerstört wird, dass es mehrere Rekonstruktionen benötigt, um wieder normal auszusehen. Und niemand hätte vermutet, dass ich weitermachen würde. Dass dieser Sommertag nicht das Ende ist, sondern die Chance für einen Neuanfang. Mein Start in das Abenteuer, blind zu leben.

So sehe ich das Geschehene: als Chance und Abenteuer. Der Unfall und der Verlust meiner Augen haben mich gezwungen, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen, mich selbst neu kennenzulernen. Schonungslos und ohne Ausweichmöglichkeiten. Das war zunächst hart, ist es teilweise immer noch. Ich habe geweint, getobt, gehadert und gezweifelt. Aber ich erkannte Dinge, die ich ohne diese Umstände niemals erkannt hätte. Mein absoluter Lebenswille hat mich so sehr überrascht wie die nicht geahnte Fähigkeit mit mir geduldig zu sein, mir Fehler zuzugestehen und kleinstschrittige Erfolge zu feiern. Nicht zuletzt hat mich diese Zeit gelehrt, wer ich bin und was mich ausmacht, was übrig bleibt, wenn mir etwas Existenzielles genommen wird und ich mich neu erfinden muss.

Dieser Unfall hat mein Gesicht zerstört, Knochensplitter, die zur Stirn gehören, hat das Ärzteteam am Kinn gefunden. Mein Nasenbein war zersplittert, beide Augenhöhlen zerstört, mein Geruchssinn ebenso verloren wie die Fähigkeit zu sehen. Dennoch habe ich Glück gehabt. Hätte mich der Huf etwas weiter oberhalb getroffen, wäre ich nun ein Pflegefall. Als ich nach mehreren Not-OPs aus dem künstlichen Koma geweckt wurde, wusste ich nicht, was los war. Da war nur dieser Schmerz und das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Es brauchte eine Weile, bis ich das Ausmaß der Katastrophe begriff. Ich lag da, mit den Infos, der neuen Situation, der Hilflosigkeit und mit mir allein. Selbstverständlich haben sich alle um mich gekümmert, aber wenn sie gegangen waren, wenn sie in ihr sehendes Leben zurückgekehrt sind, war ich allein in der Dunkelheit, mit meinem geschlagenen Körper und meinen Gedanken: Was bedeutet es, nun blind zu sein? Kann ich in mein altes Leben zurück? In meinen Job? Kann ich ohne fremde Hilfe leben? Kann ich noch unabhängig und frei sein? Was verpasse ich alles? Halte ich ein Leben in der ewigen Dunkelheit aus? Bin ich stark genug?

Relativ schnell wusste ich: Aber klar doch! Ich wollte weitermachen. Nachdem ich das Krankenhaus verlassen hatte, begann ich, Informationen zu sammeln und Hilfe zu fordern. Niemand schenkt einem etwas, um alles muss man sich selbst kümmern. Wobei mir mein Mann eine große Hilfe war – ohne ihn hätte ich es nicht geschafft. Mit Hartnäckigkeit gelang es mir, schnell in eine neu geschaffene Reha-Maßnahme zu kommen und im Anschluss daran in die berufliche Reha im Berufsförderungswerk Düren. Zehn Monate nach dem Unfall war ich wieder in meinem alten Job als Lehrerin. Das verdanke ich vielen Menschen, die an mich geglaubt haben und mir Chancen eingeräumt haben, die ich nur ergreifen musste. So wie ich mich auf mein blindes Leben eingelassen habe, so hat mein Mann sich auf eine blinde Lebenspartnerin eingelassen, so hat sich die Bezirksregierung für Inklusion von allen Seiten ausgesprochen und mich als blinde Schulleiterin ans Regelschulsystem geholt.

Mein blindes Berufsleben unterscheidet sich nicht so stark von meinem vorherigen. Solange die Hilfsmittel funktionieren und niemand meine gewohnten Wege verstellt, fällt vielen Gesprächspartnern meine Blindheit zunächst nicht auf. Neben meiner Tätigkeit als Rektorin unterrichte ich seit Sommer 2018 auch wieder eine Deutschklasse. Das bedeutete die größte Umstellung. Ich musste meinen Unterrichtsstil und die Vorbereitung komplett neu strukturieren. Die Schüler sind immer noch verblüfft, wenn ich autark mit Laptop und Medienboard die Unterrichtsinhalte vermittle und genau orten kann, was gerade im Unterrichtsraum passiert. Und so schaffe ich es jeden Tag ein kleines bisschen mehr, über 400 Jugendliche für den normalen Umgang mit blinden Menschen zu sensibilisieren. Zu Beginn meiner beruflichen Wiedereingliederung habe ich mich in jeder Klasse vorgestellt, und die Schüler konnten alles zum Thema Blindheit und Unfall fragen. Es ist spannend, wie unbefangen die Jugendlichen dem Thema begegnen. Einmal thematisierte ich das Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel. Für die Klasse war es ein Augenöffner, dass ein blinder Mensch nicht weiß, welche Buslinie einfährt und dass ein kleiner Hinweis von Sehenden hilfreich sein kann. Am Folgetag fragte mich eine befreundete blinde Frau, ob ich wieder auf Blindentournee in meiner Schule gewesen sei. An ihrer Bushaltestelle hätte ein Chor von mindestens 20 Kinderstimmen ihr jeden einfahrenden Bus angesagt.

Die größten Barrieren, auf die ich in meinem Berufsalltag stoße, errichten nicht Jugendliche, sondern Erwachsene. Sei es, dass offizielle Dokumente konsequent nicht barrierefrei sind, sei es, dass bei Fortbildungen und Besprechungen nicht daran gedacht wird, dass da auch eine blinde Teilnehmerin sitzt. Und vor allem die immer wiederkehrende Frage: „Schaffen Sie das überhaupt?“ Diese Frage ist für meine Schülerinnen und Schüler kein Thema. Sie nehmen mich nicht als blinden Menschen wahr, sondern als Schulleiterin, als Deutschlehrerin, als Pädagogin, als Erwachsene, als Mensch. Ich wünsche mir generell, dass ich nicht auf meine Blindheit reduziert werde. Auch deshalb habe ich mich entschieden, bei der Reportage „Plötzlich blind“ des WDR-Magazins „Menschen hautnah“ mitzuwirken: um zu zeigen, dass nach einer Erblindung nicht alles vorbei ist und Blindheit keine Reduzierung bedeutet. Die Drehtage waren spannend. Der erste Dreh wurde in der Schule gemacht, und man hört im Beitrag an der Sprechgeschwindigkeit, wie nervös ich war. Die Blindheit hilft aber, die Kamera schnell zu vergessen.

Es gab seit meiner Erblindung viele schöne und bewegende Momente. Stolz bin ich immer noch, wenn ich daran denke, wie ich das erste Mal allein mit Langstock über den Flur gelaufen bin, wie ich das erste Mal mit der Bahn gefahren bin und wie ich das erste Mal unfallfrei gekocht habe. Glücklich bin ich, wenn ich daran denke, wie ich das erste Mal mit meinem Blindenführhund Balou gelaufen bin, wie frei sich das angefühlt hat. Ich freue mich wie ein kleines Kind, wenn ein neues Hörbuch von meiner Lieblingsautorin erscheint. Ich liebe es, durch die Wohnung zu tanzen. Ich schätze es, mit Menschen gute Gespräche zu führen. Da ist es egal, ob ich etwas sehe oder nicht.

Ich stehe am Anfang meines blinden Lebens, und es gibt noch viel zu entdecken. Ich werde immer wieder auf Schwierigkeiten und Hürden stoßen, ich werde auf Rückschläge vorbereitet sein müssen. Aber das muss ein Sehender auch. Das Lebensglück ist nicht an zwei gesunde Augen geknüpft. Eins steht für mich fest: Ich will nie wieder auf die Intensivstation zurück. Ich will niemals mehr einer so vollständigen Hilfslosigkeit ausgeliefert sein wie die ersten Wochen nach dem Unfall. Deshalb stehe ich jeden Morgen wieder auf, nehme jedes Training in Lebenspraktischen Fähigkeiten und Mobilität mit, das ich kriegen kann. Deshalb probiere ich fast alles aus, was der Hilfsmittelmarkt hergibt und versuche ständig, aus der Komfortzone zu treten. Und deshalb lache ich so oft und so herzlich wie möglich.


Kommentare


Neuer Kommentar

Durch das Abschicken des Formulars stimmst du zu, dass der Wert unter "Name oder Pseudonym" gespeichert wird und öffentlich angezeigt werden kann. Wir speichern keine IP-Adressen oder andere personenbezogene Daten. Die Nutzung deines echten Namens ist freiwillig.

Über diesen Podcast

Hier finden Sie den Podcast des DBSV-Verbandsmagazins "Sichtweisen“, der aus zwei Reihen besteht:

Für „Leseprobe“ wählen wir aus jeder Ausgabe einen Beitrag aus und stellen ihn hier zur Verfügung - zum Reinhören und Reinlesen!
In der Hör-Reihe „Präsidiumsgespräch“ beleuchten DBSV-Präsidiumsmitglieder mit Gästen aktuelle Themen, die den Verband beschäftigen.
Impressum: https://www.dbsv.org/impressum.html

von und mit DBSV

Abonnieren

Follow us